Tuesday, October 10, 2023
Der Schriftsteller Arno Geiger über das autobiographische Erzählen
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Der Schriftsteller Arno Geiger über das autobiographische Erzählen
Artikel von Arno Geiger •
3 Tag(e)
Keine erzählte Geschichte ist im engeren Sinn wahr, doch wir erzählen unsere Geschichten fort und fort
Die Begegnung mit unverkrampfter Direktheit ist immer ein Ereignis. Beim Lesen von besonders freimütig verfassten Briefen hatte ich stets ein Gefühl von jetzt und hier. Ich verstand es nie als Schwäche, wenn jemand offen berichtete, auch dann nicht, wenn’s um Misslingen ging, um Dinge, die man gemeinhin als peinlich bezeichnet. Knut Hamsun lässt in dem frühen Roman „Mysterien“ eine seiner Figuren sagen: „Ein großer Dichter ist ein Mensch, der sich nicht peinlich ist.“
Unter diesem Aspekt ist privates Schreiben öfter große Kunst als Schreiben für die Öffentlichkeit. Vor allem in der Öffentlichkeit sind Menschen sich selbst peinlich, und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer, sagt K., meine Frau (sie ist Psychotherapeutin). In Hinblick auf das Schreiben meines Buchs „Das glückliche Geheimnis“ habe ich mir gesagt: Behalte das im Hinterkopf. Bemühe dich um eine Art Gegenprogramm.
Vor einiger Zeit las ich über die Religion der alten Ägypter. Bereits im mittleren Reich, um 2000 vor Christus, kannten die alten Ägypter ein Totengericht, bei dem erwogen wurde, ob der Wahrheit entsprach, was der Tote als seinen Lebenslauf ausgab. Es ging nicht darum, ob im Bericht des Toten Fehlverhalten vorkam, sondern ob der Tote sich fähig zeigte, sein Leben aufrichtig und einsichtig darzustellen. War der Tote dazu imstande und vermochte sich dadurch von seinem Fehlverhalten zu lösen, konnte sein Geist wiedervereinigt werden mit dem Körper. Und dann setzte der Tote sein Leben in der Unterwelt fort. Vor dem altägyptischen Totengericht wurde der Qualität des gelebten Lebens also weniger Gewicht beigemessen als der Qualität der Erzählung des gelebten Lebens. Wenn du fähig bist, die Ereignisse deines Lebens aufrichtig zu schildern, gewinnst du die Zukunft.
Zwischen mir und der Welt bleibt immer eine Lücke
Ich stelle mir vor, die Bekenntnisse der alten Ägypter erfolgten schriftlich. Schreibend kann man ganz anders berichten als im Gespräch mit einem Gegenüber, das schon während des Erzählens auf das Erzählte reagiert. Gewisse Dinge kann man schriftlich viel besser, kompakter, treffender ausdrücken. Das Erzählen bekommt eine dringlichere Form. Und das nicht erst im Zeitalter von Telefon und Internet, sondern schon immer. Zwar macht das Schreiben mehr Kopfzerbrechen, doch konfrontiert es einen auch stärker mit sich selbst.
Als Gattung ist die Autobiographie, wenn man sie ernst nimmt, die schwierigste. Man kann in ihr ausnahmslos nur scheitern, selbst dann, wenn der Text als Literatur gelungen ist. Als Sache zwischen sich und der Welt bleibt immer eine Lücke, ein Ungenügen, weil es nicht möglich ist, dem, was man darstellen will, ganz gerecht zu werden. Dieses Ungenügen wird auch nicht beseitigt in dem, was man landläufig Autofiktion nennt, der Mischform aus autobiographischen und bewusst fiktionalen Elementen, das Ungenügen wird nur besser verborgen. Es ist weniger gut sichtbar. Autofiktion ist wie Schachspielen gegen sich selbst, ohne ein wissendes, auf jeden Fehler oder vermeintlichen Fehler lauerndes Gegenüber. Insgesamt weniger angreifbar. Doch je schutzloser sich Literatur macht, desto vertrauenswürdiger ist sie in meinen Augen. Das gilt auch dort, wo sie sich irrt. Auch Irrtum kann vertrauenswürdig sein als Teil der Subjektivität jeder ernstzunehmenden Literatur. Ich schreibe, obwohl ich irre. Im Wissen um meine Unvernunft gebe ich mir selbst Ausdruck. Nichts anderes erwarten wir, glaube ich, von Literatur, als dass ein Individuum sich selbst subjektiv Ausdruck gibt. Subjektivität, eine beiläufige, unverstellte Subjektivität, die ganz selbstverständlich ihren Anteil am Allgemeinen hat – das ist es vielleicht, was wir meinen, wenn wir von Wahrhaftigkeit sprechen.
Warum ich Frida Kahlo bewundere
Nehmen wir ein Selbstporträt von Frida Kahlo: Es liefert keine Wahrheit, es ist Selbstdarstellung. Die optische Gestalt ist dem Porträt gegeben. Aber der Gehalt? Den Gehalt eines Selbstporträts können wir nicht festmachen. Was sich Frida Kahlo gedacht und was sie empfunden hat und wer diese Person im Moment des Malens war: Das bleibt rätselhaft. Denn selbst durch die schonungsloseste Selbstdarstellung wird das Geheimnis Mensch nicht weniger, allenfalls tiefer, das Geheimnis wird sozusagen nach unten verlagert. Analog zu Sokrates: Je mehr ich weiß, desto bewusster wird mir, wie wenig ich weiß. Und weil Frida Kahlo eine großartige Künstlerin war, gibt sie in ihren Selbstporträts nicht nur der eigenen rätselhaften Person Ausdruck, sondern zugleich dem grundsätzlich Menschlichen in sich. Ich fühle mich von Frida Kahlos Selbstporträts ganz grundsätzlich angesprochen. Auf dem Weg über sich selbst kommt sie dem Rätsel des Menschseins näher. Womit ich nicht meine, dass sie es löst. Sie zeigt es. Wir sehen das Rätsel deutlicher, erfassen es bewusster – als etwas Wahrhaftiges.
Was soll man sonst noch dazu sagen? Ich bin überzeugt, dass Offenheit einen hohen moralischen Wert besitzt und dass es meine Aufgabe als Künstler ist, offen zu berichten. Mich selbst beschützen? Das ist nicht mein Anliegen. Gute Literatur beschützt den Menschen. Gute Literatur beschützt uns alle. Dies zum einen.
Zum anderen: Streng genommen ist keine längere Ereignisfolge in ihrer Komplexität erzählbar. Keine erzählte Geschichte ist im engeren Sinn wahr. Und doch erzählen wir unsere Geschichten fort und fort, jeder auf seine Art. Man kann ein Leben lang von seinem Leben erzählen und tut es, am Küchentisch, am Telefon, in Briefen. Die Altpapiertonnen Wiens waren für mich eine Art Küchentisch. Dort wurden Stimmen hörbar, immer neue und weitere Stimmen und nochmals Stimmen. Sie berichteten von Schönheiten und Härten. Es gibt unendlich viel zu berichten, aus dem Ferienlager, von der Dienstreise, aus dem Ehealltag, von Liebe und Tod. Und jede dieser Geschichten ist verkürzt und durch die Darstellung mit Mitteln der Sprache verwandelt, etwas Subjektives, nahe der Erfindung, aber deswegen nicht unwahr. Als Erzählung, in der ein Mensch sich selbst Ausdruck gibt, ist jede Erzählung etwas Tatsächliches. Eine Erzählung ist immer tatsächlich: Wenn das Kind nach Hause schreibt, dass es im Ferienlager angespuckt worden ist, dann spricht mich das an. Stimmen, Stimmen, Stimmen. Und ich denke mir: Ich will nicht mehr herabgesetzt werden, nicht von den Nachbarskindern, nicht von den Schulfreunden, nicht von wem auch immer.
Hätte ich mich mehr beherrschen können? Wozu?
Und um den Gedanken von der Offenheit weiterzuspinnen: Der Preis, den ich heute erhalte, ist mehr als Anerkennung, er ist auch Angenommenwerden. Denn glauben Sie mir, ich hätte mich mindestens bemühen können, mehr Theater zu spielen, souveräner zu sein, und – nicht wahr? – freundlicher. Dies apropos, ein Zitat aus dem Buch: „Alle verblöden um die Wette.“ Vielleicht hätte ich mich mehr beherrschen können. Aber wozu? Eine Autobiographie hat nicht zurückhaltend zu sein. Je aufrichtiger, desto besser. Je mehr rundheraus, desto weniger abgerundet. Es ist gut, finde ich, wenn man sich beim Schreiben gehen lässt und sich dabei selbst besser kennenlernt. Das ist erhellend, mitunter desillusionierend. Es könnte Schlimmeres passieren als eine Desillusionierung. Alles, was das Bewusstsein in Richtung Realismus schärft, ist bei mir positiv besetzt.
Realismus – ich nehme an, dass ich nur dieses eine Leben habe, ich bin kein alter Ägypter. Ich bin jetzt und hier und versuche einzutauchen, hinunterzulangen bis zum Grund. Ich will draußen sein, teilnehmen, und ich will es nicht billig haben, ordentlich, mich selbst beschützend. Ich will es unordentlich, subjektiv, wild auf meine Art. Und indem ich mich preisgebe, schaffe ich die Voraussetzung dafür, dass ich frei sein kann, mich entfalten, Erfahrungen machen kann. Diese Erfahrungen teile ich mit in meinem Selbstverständnis als Künstler. Und ehrlich gesagt, ich hatte beim Schreiben sehr gehofft – oder vielleicht sogar gedacht –, dass uns allen daran liegt. Und dass ich im Erzählen über mich möglicherweise selbst zu einer durchlässigen Stelle werde, durch die man hinunterlangen kann.
Immer in Bewegung bleiben, immer neugierig bleiben, hinunterlangen bis zum Grund. Auch im Weggeworfenen erfährt man Dinge, über die es sich zu reden lohnt. In einem Brief teilt eine Frau ihrer Freundin mit, sie habe im Radio einen Vortrag gehört, und der vortragende Paartherapeut habe gesagt, seine Erfahrung sei, Frauen lägen mit ihren Verdächtigungen gegen den Partner praktisch immer richtig. Früher oder später stelle sich heraus, dass es tatsächlich eine andere Frau gebe beziehungsweise dass der Mann gelogen habe. Meine Frau und ich haben darüber geredet. K. meinte lapidar, ein wenig herausfordernd, dass sie ebenfalls immer richtig liege. Umgekehrt ich, sagte sie lachend: Ich hätte keine Ahnung. Auf meine Frage, wovon ich keine Ahnung hätte, sagte sie – und ich hatte nichts anderes erwartet –, da gebe es eh nichts. Grinste und zuckte die Schultern. Dies als kleine Nachricht von unserem ehelichen Küchentisch, um ganz etwas anderes zu sagen, nämlich dass K. tatsächlich klüger ist als ich, jedenfalls dort, wo’s zählt, im Alltag.
Es gibt etwas, dem keine Sprache gewachsen ist
Liebe K., es war schön und ist schön, und es wird sehr schön sein. Ich danke dir für alles und dass du mir dieses Buch ermöglicht hast. Du hast es mir in deinem eigenen Selbstverständnis ermöglicht nicht trotz, sondern wegen meines Bemühens um Aufrichtigkeit. Dante schreibt: „Schwach ist die Liebe, die sich noch in Worten ausdrücken lässt.“ Ja, und das alles eingebettet in etwas viel Umfassenderes. Es gibt in unserem Leben Unentwirrbares, Unauflösliches, Dinge, denen keine Sprache gewachsen ist.
Und weil ich öfters gefragt werde, warum ich mit meinen Runden zu den Altpapiercontainern aufgehört habe: Sie waren etwas Abgeschlossenes, mit einmal trugen sie das Aufhören in sich. Wobei, wie es im Buch heißt: „Ich beende die Geschichte, indem ich sie erzähle.“ Ein Gefühl wie nach dem Tod meines Vaters. Weil ich in der Beziehung zu meinem Vater nichts aufgeschoben hatte, durfte ich, als er gestorben war, gehen: Ich entlasse dich, du bist frei. Bei den Runden hatte ich ebenfalls nichts aufgeschoben. Fünfundzwanzig Jahre. In fünfundzwanzig Jahren hat man ausreichend Zeit, seine Wahrnehmungen zu machen und seine Schlüsse zu ziehen. Alles zu seiner Zeit. Und dann: Zeit, ein Buch zu schreiben.
So passiert es zwischendurch, dass mein Leben in ein autobiographisches Buch mündet, um am Ende des Buches wieder auszutreten, wie der Rhein aus dem Bodensee, an dem ich aufgewachsen bin. Rheinländer auf meine Art. Zu etwas Geradlinigem habe ich es nicht gebracht. Mein Leben ist durch dieses Buch hindurch, jetzt mäandert es weiter. Und es war für mich dieses Eintreten in den Text und das Verlassen des Textes am hinteren Ende der Abschluss einer Periode, um die Zukunft zu gewinnen. Wie bei den alten Ägyptern. Wirklich frei sind wir, wenn wir erzählen. Wenn wir erzählen und im Erzählen uns selbst besser verstehen, können wir weitermachen. Ich sehe mich jetzt besser, mit Blick auf die Zukunft. Und von dem, was mich der Abfall gelehrt hat, zehre ich ein Leben lang, davon bin ich überzeugt. Das geht nicht verloren, nur weil ich aufhöre.
Keine Angst davor, dass nichts Besseres mehr kommt
Ganz nebenbei, K. war gegen das Aufhören, sie sagte: „Tu’s nicht!“ Dann sah sie mich lange und eindringlich an. Warum? Sie mochte den Mann der Straße. Sie mochte vieles an den Runden. Unter anderem bedauerte sie, dass ich – die Straßen Wiens verlassend – unseren Weinberg verließ. Immer hört jemand mit dem Trinken auf und stellt seine Bestände hinaus an die Straße. Deshalb brachte ich regelmäßig kartonweise Wein nach Hause. Dass wir jetzt 111 Flaschen Riesling aus dem Rheingau bekommen – das ist für mich der flüssige Beweis, dass etwas Besseres nachkommen kann, wenn man aufhört. Die Angst, dass nichts Besseres nachkommt, hat etwas Lähmendes. Dieser Angst wollte ich mich nicht unterwerfen.
Was bleibt noch zu wünschen? Zwei, drei andere Dinge. Die Grenzen von 2008 für die Ukraine, Frieden zu Wasser, zu Land und in der Luft. Irgendwo still auf einer entminten Wiese liegen zwei, die kriegsbedingt längere Zeit getrennt waren, ungezwungen, ohne ein Muss von außen. Ohne Philosophie. Sie liegen dort, sie spüren die gegenseitige Wärme. Was gibt es Schöneres? Bei K. spüre ich ihre Wärme. Jetzt wissen Sie auch das. Man soll nicht ständig philosophieren. Man soll nicht alles für sich behalten. Ich hoffe, Sie verstehen mich. Ich denke ja.
Und sonst? Wir befinden uns in einem umfassenden Krieg, den der Mensch gegen die Natur führt, der eigenen Bequemlichkeit zuliebe. In den Fabriken der Bequemen werden Lebenslügen hergestellt. Die Folgen unserer Bequemlichkeit bekommen vor allem ärmere Länder zu spüren. So rutschen wir weiter durch die Jahre. Zu schreiben heißt für mich immer auch: Ich hätte gern, dass die Dinge einen anderen Verlauf nehmen. Aber ich sehe nicht, dass die genannten Krisen bald in Ordnung kommen. Und wenn es schief gehen sollte, dann ist das mehr als „Da kann man halt nichts machen“, dann ist das mehr als „Pech gehabt“. Dann sind das noch größere und noch furchtbarere Katastrophen als ohnehin. Sie sehen, es gibt Wichtigeres als Fragen zum autobiographischen Schreiben. Und da kämen wir zum Ende, leider. Leider, weil ich gerne hier bin. Und wenn Sie heute ähnlich gerne hier sind wie ich, dann – das wäre sehr viel für mich.
Arno Geiger ist Schriftsteller. Der Text ist die leicht gekürzte Fassung der Dankesrede bei der Verleihung des diesjährigen Rheingau-Literaturpreises für sein autobiographisches Buch „Das glückliche Geheimnis“ (erschienen bei Hanser).